Simone Schneider, 1997/1998
Simone Schneider
Hausautorin am Nationaltheater 1997/1998
Simone - Wege zum Glück?
1962 begann das zweite Vatikanische Konzil, versetzte die Kubakrise die Welt in Schrecken und erblickte ein Mädchen das Licht der Welt: In Duisburg geboren, wuchs Simone Schneider in Geldern am Niederrhein auf. Wenig Persönliches ist über die in Berlin wohnhafte freie Autorin zu erfahren. Aus der Provinz zog es sie nach dem Abitur in die bayrische Landeshauptstadt München, wo sie ein Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Philosophie begann. Weitere Stationen ihrer Wanderjahre waren Köln und Berlin. Eben dort, wie auch in Moers sammelte sie erste berufliche Erfahrungen bei verschiedenen Zeitungen und nicht zuletzt am Theater.
Im politisch wie historisch wohl aufregendsten Jahr der Nachkriegsgeschichte 1989 ließ sich Schneider im zarten Alter von 27 Jahren in West-Berlin, genauer Kreuzberg nieder. Die erste Arbeit in der neuen Heimat war das Hörspiel „Vogel Kleist“, das unter der Regie von Jörg Jannings bei RIAS Berlin produziert wurde und der jungen Autorin erstmals mediale Aufmerksamkeit schenkte. Erste internationale Erfolge feierte Schneider bereits zwei Jahre später mit ihrem zweiten Hörspiel „Roter Stern“. Unter der Regie von Ulrich Gerhard wurde die Auftragsarbeit des Bayrischen Rundfunks zum „Hörspiel des Monats März“ gekürt, erhielt den „Lautsprecher Preis“ einer Publikumsjury der Akademie der Künste und wurde 1993 beim Festival of Radio Drama in New York mit der Bronzemedaille ausgezeichnet. Erfolge, an die ihre späteren Hörspielproduktionen nicht werden anknüpfen können. Nach „Das Gebet der Stunde“ und „Die Schöne und das Tier“ 1993 und 1994 sorgte ein neues Betätigungsfeld für Aufsehen und Anerkennung: am 8. Oktober 1994 wird an den Münchner Kammerspielen „Die Nationalgaleristen“ uraufgeführt – und zwar am großen Schauspielhaus.
Zum Inhalt: In einem Museum formiert sich ein Haufen undurchschaubarer, junger Menschen, die zunächst keinerlei Interessenschnittmengen bilden, zu einer freien Künstlergruppe. Ein grausames Spiel soll eingerichtet werden. In dem eigentümlichen Milieu typisch berlinerisch verdrehter Gestalten, in den Wirrungen einer zwar politisch vollzogenen, sozial aber längst nicht realisierten Wende, treffen sich die „Zivilisationszombies“ – „Die Nationalgaleristen“, ein Stück über die Liebe in Zeiten der Hyperneurosen. Die Nerven der Protagonisten sind zum Zerreißen gespannt. In den musealen Hallen treffen sie aufeinander, laufen und reden aneinander vorbei und schlafen ständig im Stehen ein. Die kurzen Szenen und Handlungssplitter sollen die emotionalen Befindlichkeiten widerspiegeln, die der Tag des Mauerfalls auslöste – ein Tag, der in den Augen der Autorin keine Entspannung, sondern ein Überkochen des Psychokessels Berlin mit sich brachte. Das ist viel für ein Debütstück, zu viel. Und so kommt der Kritiker Robin Detje am 14.10.1994 in der „Zeit“ zu dem Schluss, dass „Die Nationalgaleristen“ ein Stück sei, „das keine Haltung findet zu der Welt, die es beschreibt. Das sich rettungslos in seinem Gegenstand verliert. Das keine Diagnose leisten kann, weil es selbst zu sehr Symptom ist. Das Ergebnis - ein Alptraum: Menschen reihen Worte aneinander, die ungefähr bedeutungsvoll klingen, aber alles in allem keinen Sinn ergeben. Über alldem liegt ein schriller Grundton der Verzweiflung. Aus radikaler, radikalster Empfindsamkeit entringt sich Simone Schneider der Schrei nach endgültigem Schutz vor der „abgestandenen Herde", dem „Psychoproletariat". Zwischen den Zeilen schleicht sich ein wenig Ideologie ins Drama, Sehnsucht nach edler Elite als letzte, feine Rettung.“ Harte Worte für ein Aufsehen erregendes Theaterdebüt – ab jetzt ist sie im Gespräch.
Simone Schneider in Mannheim
Am 25. Mai 1996 erreichte die erste Pepsi-Dose den Weltraum, gelang der Durchbruch im Fall Reemtsma und Simone Schneider brachte ihre zweite Uraufführung auf die Bretter, die die Welt bedeuten: Die Auftragsarbeit „Orwell. Ein Stück“ feierte am Mannheimer Nationaltheater Premiere.
Regisseur Armin Petras liebäugelte bereits 1994 mit einer Inszenierung von Orwells „1984“, ein Vorhaben, das aus aufführungsrechtlichen Gründen nicht realisiert werden konnte. Als er der jungen Autorin begegnete, die sich zu jener Zeit mit ähnlichen Ideen beschäftigte, sah man die Chancen auf eine theatrale Verarbeitung des Stoffes wieder in greifbare Nähe gerückt. Petras, durch die Arbeiten an Hauptmanns „Iphigenie in Delphi“ bereits in engem Kontakt mit der Schillerbühne, schlug eine Uraufführung in Mannheim vor. Doch der damalige Schauspieldirektor Michael Schlicht vertröstete ihn und drängte auf eine baldige Abgabe der bestellten „Iphigenie“. Nachdem diese abgeliefert und aufgeführt war, stand dem Orwell-Projekt nichts mehr im Weg.
Doch keine Adaption des „1984“-Stoffes steht auf dem Programm, sondern ein weiterentwickelter Orwell, dessen Machtkonstruktion nicht auf einer allmächtigen Partei beruht. Der „große Bruder“ ist es, der alles beherrscht: die Medien. Subtil steuern sie das Bewusstsein, regen zu Konsum an und bilden die vorherrschenden Meinungen. Im Machtzentrum – dem Sender - sitzt „Stalin“, ein radikaler Programmchef, der das Arbeitskonzept der „Identitätsklonung“, der „Japanisierung“ ohne Rücksicht auf Verluste voranzutreiben sucht. Das Publikum wird in „Tele-Apathie“ versetzt, die Mitarbeiter werden zu austauschbaren Zahnrädern – alles dient dem System. Gezüchtete „Alias“ doubeln die Ungehorsamen, ohne dass dem paralysierten Konsumenten auch nur die geringste Änderung ins Auge fallen würde. Orwell, ein illusionsloser Redakteur, gerät unter die Räder des erbarmungslosen Apparates. Entgegen der Funktionsketten unterworfenen Ausweglosigkeit des Orwellschen Kosmos, verlief die Erarbeitung des Stückes während den Proben. Experimentieren, Vorstoßen in den Text und neue schauspielerische Dimensionen und jede Menge Spaß waren vorherrschend. Die sehr tänzerische, hier und da gar artistische Inszenierung unter der Choreographie von Mara Kurotschak, stellte die Akteure vor ungekannte Herausforderungen. Ebenso schwierig erschien der Text, der wohl für einigen Diskussionsbedarf zwischen Mimen und Autorin sorgte. Es sei kein Stück „zum Konsumieren“, berichtete der Berliner Petras dem Mannheimer Morgen einen Tag vor der Premiere, „auch wenn das choreographische Element hin und wieder zum rein ästhetischen Genießen einlädt.“ Und so geschah die Premiere von Schneiders zweitem Bühnenstück im Studio Werkhaus des Nationaltheaters.
Wie auch bei den „Nationalgaleristen“, fällt bei „Orwell“ der verknappte, fetzenhaft zerrissene Dialogstil der Autorin auf, der den Themenkomplex des Orwellschen Zukunfts-, Gegenwarts- und nicht zu letzt auch Wirklichkeitsschrecken überzeugend umzusetzen vermag. Ebenso wissen die automatenhaft-abgezirkelten Bewegungsabläufe zu überzeugen. Anders als bei ihrem Bühnendebüt wurde diesmal der Text in vollem Umfang im Programmheft abgedruckt – nach einhelliger Aussage der Besprechungen aus „Theater Heute“, „Frankfurter Allgemeine“ und „Mannheimer Morgen“ eine gute Entscheidung, denn die Inszenierung an sich, die dem Dialog am Ende lediglich eine Randrolle einräumt, lässt den geneigten Betrachter im Dunkeln ratlos allein. Und so ist von einem lieblosen, humorlosen und furchtbar hektischen Orwell die Rede, dessen disziplinierte, hoch-artifizielle, ins Artistische ausgereifte Theaterleistung ihm schließlich doch einen bereitwilligen, wenn auch nicht von premierenüblicher Begeisterung geprägten, Beifall beschert. Ebenso erbarmungslos, wie die geschilderte Welt, fallen also auch die Kritiken zu diesem Stück aus.
Simone Schneider wird Hausautorin
Nachdem die Ära des Schauspieldirektors Michael Schlicht 1996 zu Ende ging, trat Bruno Klimek dessen Nachfolge an. Eben jener griff die Tradition des Theaterdichters wieder auf, die einst mit Friedrich Schiller im kurfürstlichen Mannheim ihren Ursprung hatte. In seiner Direktionszeit nahm nach Albert Ostermaier auch Simone Schneider das Hausautorenstipendium an. Diese allerdings, wohl abgeschreckt von der kargen Hausautoren-Wohnung - damals noch im Turm der Alten Feuerwache - wurde nicht warm mit Stadt und Leuten. So verwundert es wenig, dass in ihrer Zeit als Mannheimer Hausautorin zwar Uraufführungen in Hamburg („Malaria“) und Dortmund („Ein Kleiner Lord“) stattfanden, nicht aber am Mannheimer Nationaltheater. Somit hinterließ sie keinen bleibenden Eindruck in der hiesigen Kulturlandschaft, ebenso wenig hinterließ wohl die Stadt nachhaltige Empfindungen in ihr und ihrem Werk.
In den folgenden Jahren fand Schneider als Bühnenautorin mit dem Stück „Ägypter“, uraufgeführt am 22. Februar 1999 im Schauspiel Leipzig, sowie mit weiteren Hörspielen Beachtung und Anerkennung. 2002 verlagerte sie ihren Fokus weg von Bühnen- und Hörspielen, hin zum Fernsehen. Nach den beiden Dramen „Schattenfrau“ (2002, WDR) und „Korallen“ (2003, NDR), zeichnete sie sich für Serienerfolge wie „Bianca – Wege zum Glück“ und „Tessa – Leben für die Liebe“ verantwortlich. Zuletzt schrieb sie den MDR-Tatort „Mauerblümchen“ und die Folge „Flensburg“ des Polizeiruf-110 für den Bayrischen Rundfunk.
Denis Baranski (Teilnehmer des Proseminars „Von Friedrich Schiller bis Jan Neumann. Hausautoren am NT, Januar 2009)