Werner Fritsch, 1998/1999
Werner Fritsch
Hausautor am Nationaltheater 1998/1999
„Ein Bauernsohn, der Vierfelder-Wirtschaft betreibt“
Biografie
Werner Fritsch gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Theaterautoren der deutschen Sprache. Am 4. Mai 1960 im nordostbayrischen Waldsass geboren, wuchs er auf einem Einödbauernhof in der Oberpfalz, fernab vom Stadtleben auf. Sein Lehrer, der Schriftsteller Franz Joachim Behnisch, machte den jungen Gymnasiasten mit dem Münchner Schriftsteller und Regisseur Herbert Achternbusch bekannt. Von diesem beeinflusst, behielt Fritsch lange Zeit eine beständige produktive Nähe zu seiner Heimat bei. In den Jahren 1980 bis 1984 widmete er sich als Autor, Regisseur und Darsteller dem Aktionstheater, ehe er sich mit ganzem Herzen dem Schreiben zuwandte.
1987 erschien sein erster Roman „Cherubim“, für den er mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Robert-Walser-Preis. Seinem schriftstellerischen Debüt folgten zahlreiche Prosaveröffentlichungen, Theaterstücke, Hörspiele und Filmdrehbücher. Fritschs unermüdliche literarische Produktivität wurde bereits mehrfach honoriert, unter anderem mit dem Bayerischen Staatsförderpreis für Literatur (1996) und dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (1997). 1999 erhielt er das Theaterstipendium des Landes Baden-Württemberg (1999), im Jahre 2007 folgte das Arno-Schmidt-Stipendium.
Fritsch lebt abwechselnd im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und in der oberpfälzischen Hendelmühle, im Landkreis Tirschenreuth. Seit einigen Jahren verschreibt er sich verstärkt der Lehrtätigkeit: Mehrere Semester lang besaß er eine Gastprofessur für Dramatik und Neue Medien am Leipziger Literaturinstitut. Im Wintersemester 2008/09 war er als Gastdozent an der Goethe-Universität in Frankfurt tätig. Seine Vorlesungsreihe „Die Alchemie der Utopie“ beschäftigte sich mit Fragen zur poetischen Produktion.
Werke
Fritschs literarisches Schaffen ist vielseitig und gestaltet sich als abwechslungsreich. Es umfasst die Genres Prosa, Theater, Hörspiel und Film. Er bezeichnet sich daher gerne als „ein Bauernsohn, der Vierfelder-Wirtschaft betreibt“. Vor allem Theater besitzt für ihn einen wichtigen Stellenwert. Es sei „geradezu lebenswichtig, dass Theater ein Ort ist, wo alle diesseits wie jenseits der Rampe, trotz oder dank der gleichen Luft in der Lunge, bei offenen Augen ganz eigene Träume in den Dunkelkammern ihrer Köpfe entwickeln können.“
Bereits als Schüler erregte die darstellende Kunst seine besondere Aufmerksamkeit. Die Bühne bildet für ihn einen Gegenraum, er betrachtet sie als einen „Ort der Erleuchtung durch das Dunkel in dir und all den anderen, die jetzt auch atmen und um meiner Funken Helligkeit ringen, hic et nunc.“ Als „Widerstand gegen die globalisierende Gleichmacherei" verarbeitete Fritsch lange Zeit Motive, die in der Region seiner Kindheit verhaftet waren: Das Dasein der Dorfmenschen - ihr Glück, ihre Trauer, ihre Sehnsucht, ihr Versagen. Diesen Themenkomplex verwob, variierte und reproduzierte er insbesondere in den 1990er Jahren in seinen Theaterstücken, Hörspielen, Erzählungen und Filmen. Sein besonderes Interesse an heimatgeschichtlichen Stoffen rührt nicht zuletzt aus biografischen Gründen: Fritsch hat seine Kindheit und Jugend - die prägenden Phasen im Leben eines Menschen - auf dem Land verbracht. Die bäuerliche Lebenswelt ist fest in ihm verankert und so verwundert es nicht, dass er seine tiefgründigen Erinnerungen in vielen seiner Werke verarbeitet hat. Zudem erschien es ihm äußerst wichtig, die Oberpfalz als eine bis dato literarisch unerschlossene Gegend verstärkt in den Vordergrund zu rücken.
Schlagworte wie Natur, Mystik, Muttergottes, gefallene Engel, Leben und Tod sind für ihn von bedeutender Relevanz und in einer Vielzahl seiner Werke verarbeitet. Zudem hegt der Literat ein ausgeprägtes Interesse an den Lebensgeschichten bekannter wie unbekannter Deutscher. Neben der Biografie des Bauernknechts Wenzel zeichnet er in seinem Theaterstück „Nico. Sphinx aus Eis“ den Lebensweg einer deutschen Popikone nach. Fritsch zufolge sei es spannend, inwieweit jeder Einzelne sein Leben individuell gestalte. Ebenso wichtig sei es, dass man sich dessen erinnere. Seine Protagonisten blicken allesamt auf ihr Leben zurück; sie resümieren sowohl Höhepunkte als auch Tiefschläge.
Zeit am Nationaltheater
Bruno Klimek, seinerzeit Intendant am Nationaltheater, verpflichtete Fritsch als Hausautor für die Spielzeit 1998/99. Die Mannheimer hatten im Vorfeld bereits einige seiner Stücke gesehen, unter anderem am Schauspielshaus Darmstadt. Daraufhin fragten sie bei seinem Verlag an, ehe es zur gegenseitigen Kontaktaufnahme kam.
Fragt man den Schriftsteller nach seiner Zeit in Mannheim, so weiß er durchweg Positives zu berichten: Vor allem die angenehme Atmosphäre des Theaters und die kollegiale Stimmung innerhalb des Ensembles seien ihm in schöner Erinnerung geblieben. Gerne blickt er auf die Abende im Casino zurück, wo unter anderem eine Werkschau seiner Arbeit gezeigt wurde. Die Autorenwohnung in der Alten Feuerwache habe sich als ein exzellentes Refugium erwiesen, da sie ihm konzentriertes Arbeiten an einem Ort ermöglichte. Eindrücklich erinnert er sich an einen heftigen Sturm, der über Mannheim wütete. Diesen habe er von seinem Dachfenster aus gefilmt. Das Mannheimer Publikum habe er als sehr aufnahmefreundlich und aufgeschlossen erlebt. Dies sei in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit, betont Fritsch. Das Hausautorenstipendium erachtet er als eine hilfreiche Einrichtung: Die Institution sei grundsätzlich sehr schön, sie ermögliche einen freien Lebensstil und sorgloses Schreiben, was wiederum die Kreativität der Künstler fördere, lobt Fritsch.
Während seines Engagements in der Quadratestadt entwickelte Fritsch eine umgearbeitete Fassung seines Romandebüts „Cherubim“, welcher unter der Regie Joseph Berlingers bereits 1988 in Regensburg aufgeführt worden war. Rund ein Jahrzehnt später entschloss sich Fritsch, der es grundsätzlich bevorzugt, ältere Werke umzugestalten, eine eigene Version seines Erstlingswerkes zu veröffentlichen. Sie bildete den Auftakt des dreiteiligen Triptychons „Lost Angels“, einem Gemeinschaftsprojekt mit den vorhergehenden Hausautoren Albert Ostermaier und Simone Schneider. Die Uraufführung erfolgte am 20. Dezember 1998 im Studio Werkhaus. Das Trio präsentierte dem Publikum einen rund dreistündigen Theaterabend, welcher das Engelsmotiv in all seinem Facettenreichtum aufgriff und beleuchtete. Auf eine Inszenierung in Gestalt genuiner Bühnentexte wurde bewusst verzichtet. Stattdessen präsentierten die Darsteller dem Publikum drei voneinander abgeschlossene episch-lyrische Entwürfe, die sie in Form szenischer Monologe vortrugen. Werner Fritschs „Cherubim“ eröffnete das Spektakel, gefolgt von Simone Schneiders „Alex. Vier Sätze“, den Abschluss bildete Albert Ostermaiers „Radio Noir“.
„Cherubim“
„Cherubim“ basiert auf den Erinnerungen des Knechtes Wenzel Heindl, der auf dem elterlichen Hof des Autors gearbeitet hatte. Als Student begann sich Fritsch für Heindls Lebensgeschichte zu interessieren. In den achtziger Jahren protokollierte er dessen Erzählungen auf Tonbändern und verdichtete sie zu einem Roman. In 203 Episoden zeichnet der Autor das Leben, die Träume und Spinnereien des oberpfälzischen Bauernknechts nach, der fast ein Jahrhundert lang in einer sozial harten Gegend lebte. Wenzels Erzählungen erfolgen chronologisch, in fünf Phasen unterteilt: Von der Ewigkeit bis 1905, 1905 bis 1919, 1919 bis 1945, 1945 bis gegen Ende, vom Ende bis zur Ewigkeit. In der Ewigkeit schließt sich der Zeitring wieder.
„Und da war nichts im Anfang. Und war doch wie ein Loch. Ein Was wie ein Urloch, was es war […] Rausgekeimt gekommen grad. Da ist der Herrgott hergegangen und hat einen Batzen Dreck genommen nach dem andern. Und hat ihn hinumgewalzt und hinumgewalzt. […] Der Herr und Himmelgott hat einen Haufen dann erschaffen. Die Welt und alles Mögliche. Wie uns.“
Das Stück beginnt mit den Schöpfungsmythen – dem schwarzen Loch des Urknalls. Wenzel lässt – den Fernseher im Hintergrund - seine Lebensgeschichte Revue passieren und zieht eine traurige Bilanz: Schläge in Kindheit, Schuld und Trauer in der Ehe und die Zwangsarbeit im Dritten Reich bilden die dunklen Eckpfeiler seines langen Lebenswegs.
Während Wenzel zunächst von der ersten Verliebtheit und einem Heiratsantrag berichtet, erinnern ihn die flimmernden TV-Bilder plötzlich an ein anderes dunkles Kapitel, das sein Leben entscheidend geprägt hat: den Nationalsozialismus. „Der Hiltler!“ ruft er aus und tituliert den Diktator konsequent mit verzerrtem Namen. In Wenzels Erzählungen erscheint das Dritte Reich als merkwürdig unwirkliche Zeit, die kaum Spuren hinterlassen hat, obwohl er als Kommunist, Krüppel und beinahe geistig Behinderter, von der menschenverachtenden Terminologie der Nazis als „unwertes Leben“ deklariert, mehrfach gefährdet war.
Als Zwangsarbeiter fristete er im KZ Flossenbürg ein trostloses Dasein, bis er sich durch Flucht dem Vernichtungstod entzog. Über die Landesgrenze hinweg irrte er hungernd durch die böhmischen Wälder und will dabei sogar bis nach Afrika gelangt sein.
So mancher Zuschauer runzelte hierbei ungläubig die Stirn und fragte sich, wie ein oberpfälzischer Bauernknecht, der seine Heimat eigentlich nie verlassen hat, von Abenteuern in Afrika zu erzählen vermag und dabei detailgenau berichtet: Von Löwentigern und Orangenaffen, von kohlschwarzer Haut und der Verständigung durchs Fingerdeuten. Die Vorstellung von fliegenden Butzelkühen, die in rauen Winternächten an die Fenster einsamer Hütten im Wald klopfen, erforderte die Phantasie des Publikums.
Inwieweit die bizarre Afrika Reise und die übrigen Erzählungen des Greises, der sich einer wunderbar anmutenden Konstruktion der Dinge durch die Sprache bedient, real sind oder eine Gegenwelt darstellen, liegt im Ermessen der Zuschauer.
Fritsch charakterisiert Cherubim als „surrealistische Chronik des Jahrhunderts, zwei Weltkriege und ein Konzentrationslager im Kopf eines alten Bauernknechts.“ Seine Biografie zielt vor allem auf die Darstellung historischer Ereignisse und die Aufarbeitung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit Wenzel, der damit rechnet, auch „irgendmal unter Cherubim“ zu sein, hat Werner Fritsch eine tiefgründige Figur geschaffen, einen Zeugen des vergangenen Jahrhunderts: weise und komisch, archaisch und zeitgenössisch zugleich.
Regisseur Christoph Biermeier würzte die Inszenierung des „Cherubim“ mit allerlei Raffinesse und das, obwohl der Bewegungskanon auf der Bühne äußerst begrenzt war: einige Tanzschritte, Gesang, Blas– und Trommelmusik, verbunden mit einem archaisch gesprochenen Romantext. Den Monologtext verteilte er auf mehrere Sprecher: Kay Dietrich verkörperte den jungen, linkisch geprägten Wentzel, Franz Xaver Ott mimte den tölpelhaft älteren Knecht, den fast stummen, schalkhaft lächelnden Greis gab Dinu Lanculescu. Fritsch zeigte sich mit der dramaturgischen Umsetzung seiner umgearbeiteten Fassung äußerst zufrieden und erinnert sich an eine gute Resonanz seitens der Zuschauer.
Wenzel bediene sich „einer grellen, poetisch-bildhaften Ausdrucksweise“, Fritsch habe „aus seiner gesprochenen Sprache eine eigenartig schillernde, plastisch-knorzige Kunstsprache destilliert“ – mit diesen Worten kommentiert die Zeitschrift „Theater Heute“ den eigenwilligen Sprachstil des Protagonisten. Was zunächst als kulturjournalistische Fachsimpelei erscheint, erweist sich im anderen Moment als treffende Beobachtung: Bereits in den ersten Minuten Spielzeit kristallisiert sich die eigentümliche Sprache der Schlüsselfigur heraus. Teils archaisch, teils verwinkelt, mitunter autistisch, dann wieder atemlos - Wenzel weist einen sehr spezifischen Sprachstil auf, zudem bricht er sämtliche grammatikalische Regelungen. Seine schroffe Sprache hat sich der rauen Lebensumgebung gänzlich angepasst: Mit ihr lassen sich politische Grobheiten aushalten, Befehle umsetzen, bittere Stunden im inneren Monolog bewältigen. Wenzels Artikulierung wirkt authentisch und genau darum geht es Fritsch - um die Wahrung von Authentizität. In einem Interview bekannte er einst: „Die Sprache meiner Stücke ist erfüllt von der Utopie, dass alle Schichten unserer Gesellschaft wieder miteinander ins Gespräch kommen.“ Ihm ist es wichtig, die sprachlichen Eigenheiten verschiedener gesellschaftlicher Schichten nicht nur beizubehalten, sondern explizit zu betonen.
Dazu gebraucht er einen eigens von ihm konzipierten Sprachstil – den Tonbandrealismus, zu dessen Genre „Cherubim“ zählt. Fritsch charakterisiert den Tonbandrealismus als Kunstsprache, die zahlreiche authentische Elemente des jeweiligen sozialen Umkreises der Protagonisten wahrt. Als Vorbild fungiert der so genannte Foto-Realismus, bei dem der Künstler die Bilder einer Fotografie getreu nachempfindet. Mit dem Tonbandrealismus verhalte es sich in ähnlicher Weise: Der Zuschauer deute das Stück als Tonbandaufnahme, dabei sei es ein höchst artifizielles Produkt, das heißt es ist nicht nachgezeichnet, sondern „mit allen Wassern des modernen Sprechens gewaschen.“ Die praktische Umsetzung/ Konzeption verläuft nach äußerst strategischem Muster: Zunächst werden die Sprachstrukturen von unten heraus aufgelöst, um anschließend Überraschungen und Überleitungen zu schaffen, die (umgangs)sprachlich ungewöhnlich sind. Fritsch geht es dabei vor allem um die Bewusstseins-Schaffung mit Hilfe von Sprache. Der Tonbandrealismus zielt vornehmlich auf die Entwicklung neuer Sprachstrukturen, die dem Publikum alternative Denkstrukturen ermöglichen. Mithilfe von Sprache soll ein individuelleres Denken herbeigeführt werden. Betrachtet man sein theoretisches wie praktisches Vorgehen, so verwundert es nicht, dass Fritsch der Ruf eines Sprachkünstlers nacheilt. „Sprache ruft immer noch die tiefsten Bilder in den Köpfen der Zuschauer und Zuhörer hervor: Filme, entwickelt im Kopierwerk des eigenen Kopfs“ – urteilt Fritsch über den gesellschaftlichen Stellenwert verbaler Kommunikation.
„Steinbruch“
Auch nach seinem Stipendium hielt der Schriftsteller dem Mannheimer Publikum die Treue. Im Jahre 2000 kam es zu einer erneuten Kooperation mit dem Nationaltheater, diesmal wurde sein 1983 verfasster Text „Steinbruch“ uraufgeführt. Als Episode des Triptychons „Lost Angels“ nahm „Cherubim“ nur ein Drittel eines Theaterabends in Anspruch. Mit der umgearbeiteten Fassung seines Textes „Steinbruch“ von Monolog zu einer szenischen Lesung konzipierte Fritsch ein abendfüllendes Stück. Regie führte Patrick Schimanski, mit dem Fritsch im Laufe seines Autorendaseins mehrfach zusammengearbeitet hat, Bernd Höscher fungierte als Darsteller. Vorgeführt wird die Kopfwelt eines Soldaten bei einem Nachtmarsch durch Eis und Schnee und beim Wacheschieben. Die als quälend, demütigend und unmenschlich empfundenen äußeren Umstände spiegeln sich in gleichermaßen quälenden, brutalen Gedanken und Phantasien wieder. Letztere werden zunehmend bedrängender, bis sie letztendlich in einem Sog enden, dem ebenso wenig zu entkommen ist wie dem Abgrund an Aggressionen.
Désirée Reidel (Teilnehmerin des Proseminars „Von Friedrich Schiller bis Jan Neumann. Hausautoren am NT, Januar 2009)