Freunde und Förderer des Nationaltheaters Mannheim

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Christoph Nußbaumeder, 2007/2008

Christoph Nußbaumeder
Hausautor am Nationaltheater 2007/2008

Christoph Nußbaumeder hat uns einen eigenen Text für diese Seite zur Verfügung gestellt.


Beim Durchmessen der Stadt Mannheim

1 Am Paradeplatz

Im Gehen schlingt ein kleiner, hagerer Mann, hinkend von Natur aus, eine Portion fetttriefende Pommes hinunter. Bei jeder dritten bis vierten Bodenberührung seines steifen, linken Beines, welches seitlich etwas absteht, steckt er sich eine goldfrittierte Kartoffelstange in den Mund.

Er durchmisst die Stadt wie ein Spion, sein Radius von heute, ist der von gestern. Jeden Morgen schleppen ihn seine Beine zum dröhnenden Betonmischer, der im Einklang mit dem Pressschlaghammer an der evangelischen Kirche die Stadt aus einer Baulücke heraus beschallt.
Bis dahin ist die Portion jedes Mal verschlungen, der Magenboden ausgelegt fürs erste Bier. Auf einem handgeschriebenen Schild hinter dem verstaubten Schaufenster eines leerstehenden Kaufhauses steht „Räumungsverkauf wegen Umbau“. Die ersten Sonnenstrahlen brechen im Glas und blenden ihn. Es ist Zeit umzukehren, um einzukehren in eine warme Stube.

Ausgesprochen beschissen war die letzte Nacht, kaum Verwertbares war dabei, nur das übliche Leergut, das ihn über Wasser hält. Dabei war Sperrmüll und damit laut Stadtverwaltung die Gelegenheit, nicht mehr benötigte Gegenstände herauszustellen. Auf der Straße liegt die eigene Sprache, ungesprochen, an jedem Tag und in jeder Nacht in Mannheim, das ihm keine Frau mehr gibt.

Die Unfreundlichen unter den Menschen trifft man meist in den Morgenstunden an, wenn sie zur Arbeit hetzen, Menschen mit Pupillen in den Augenhöhlen, aus denen funkelnde Messerspitzen ragen. Und jedes Mal erschrickt er bei dem Gedanken, sie stachen ihren Gemütszustand nur ihm, dem Hinkemann, ganz exklusiv und erbarmungslos ins Gesicht. Die Kraft, eine Frau zu begehren, wäre ihm noch gegeben; seine lief ihm davon, zu weit, um sie mit ausgestreckten Armen noch zu erreichen. Das Leben ist natürlich besser ohne Frau, aber irgendwie nicht schön.

Lieber Christoph,
jetzt bin ich wieder bei ihnen, länger als ein Wochenende geht eigentlich nicht, aber ich bin gerade an einem Punkt angekommen, wo ich all den Fragen nachgeben muss.
Ich weiß nur überhaupt nicht, wie ich sie stellen soll, gleichzeitig suche ich nach Antworten.
(Wie einfältig. Wenn ich schon kein Wort herausbringe, und ich glaube, das wird sich so schnell nicht ändern, besteht meine einzige Hoffnung darin, dass meine bloße Anwesenheit ihnen die Fragen aufdrängt. Wie leichtgläubig.)

Sie wissen halt nicht, wie sie mir begegnen sollen, und ich weiß nicht, wie ihnen beizukommen ist, dann bleibt nur das einstudierte Rollenspiel, das ewig gleiche Muster.
Ich wieder ganz Tochter, sie wieder ganz Eltern, nur gerade zwanzig Jahre im Zeitraffer zurück, mit der Attitüde der Aufsichtspflicht. Auch damals haben sie Behüten mit Aufsicht – ich könnte genauso sagen: Sicherheitsverwahrung – verwechselt.

Ich bin dann gestern Abend rausgegangen, hab die Stadt in großen Schritten durchmessen. Das Auto wollten sie mir nicht geben, dahingehend hat sich auch nichts geändert, seit ich ihnen mit 18 den Kotflügel verbeult hab. – Heißt das überhaupt so? Kotflügel klingt irgendwie… egal.
Erst ließ ich mich treiben, durch die Stadt, die meine Jugend war – wie lächerlich das klingt. Und auf einmal lief ich den Neckartal-Weg entlang, dort wo der Neckar in den Rhein fließt.
Links an der Uferseite stehen vereinzelt Schilfgräser, rechts liegt ein Maisfeld, und jetzt, in der Abenddämmerung scheint das Blau des Himmels identisch mit dem Dunkel des Flusses.

Auf der anderen Seite steht das Werk. Da ist mein Vater jahrzehntelang ein- und ausgegangen. Da hat er gearbeitet. Es hat mich ja nie interessiert, es war die andere Welt, auf der anderen Seite, von der er nie aus freien Stücken erzählte.
Es war immer der andere Raum, wo er sich aufhielt, wenn er nicht bei uns war. Vielleicht war das seine Form, uns zu behüten, indem er nie von ihm erzählte.

Von hier aus sieht BASF wie ein Kunstwerk aus, die Angestellten wie Bestandteile eines riesigen Pasticcios. Man kennt es und kennt es nicht. Ich könnte stundenlang rüberschauen. Immer bewegt sich was im Detail.
Früher, zu Schulzeiten, fanden wir’s cool, wir lagen oftmals im Sommer zwischen den Schilfgräsern und kifften, und die Fabrikgeräusche klangen metallen, fast mythisch hallten sie wie Endzeitsirenen, und die Frachter, auf dem zu Tode begradigten Rhein, schoben eine weiße Gischt vor sich her, und die aufsteigenden Rauchschwaden aus den Werksschornsteinen, die wir, vom Gras beschwingt, zu all möglichen Motiven ausdeuteten, nährten unsere Phantasie in dieser durchgestylten Trostlosigkeit. Damals war mir nie bewusst gewesen, dass er auch zu denen gehörte, die da rein- und rausgehen.
Da draußen arbeiten die Väter und in der Schule mussten manchmal die Fenster zu bleiben, weil’s zu arg stank.
Ich hätte gern was zu kiffen dabei gehabt, denn plötzlich brach die Nacht herein und die Lichter des Werks leuchteten auf. Da draußen gibt es keine Sterne. Die gab es früher schon nicht. In jedem Fall ist es ein festlicher Akt, wenn vom anderen Ufer betrachtet die Arbeitslichter angehen.

Auf dem Rückweg ist mir dann noch was Merkwürdiges passiert, irgendwo in der Nähe vom Paradeplatz. Gestern war Sperrmüll, so eine Eigenart, die ich schon fast vergessen hatte. Sämtliche Gehwege sind dann mit alten Möbeln und Ramsch vollgemüllt.
Ein paar Suffkos standen rum und haben den herausgestellten Hausrat durchsucht. Einer von denen hat mich bei dem Versuch, mich an irgendwelchen klobigen Möbelstücken vorbeizuschlängeln nicht aus den Augen gelassen, er taxierte mich wie eine Außerirdische. Erst war’s mir unangenehm –, ich werd ja bei so was schnell paranoid – aber dann hab ich seinen Blick einfach aufgefangen. Ich bin stehen geblieben und hab ihn angeschaut. Dann hat er mich angelächelt und hat mir seine Bierflasche hingehalten. Ich hab natürlich abgelehnt, obwohl ich große Lust gehabt hätte. Er sah auf seine heruntergekommene Art irgendwie freundlich aus. Plötzlich kam er ganz nah an mich heran, nahm eine alte Geldbörse heraus, klappte sie auf und zeigte mir ein ausgefranstes Schwarzweißfoto, auf dem eine Frau zu sehen war, ungefähr in meinem Alter. Er hat nichts gesagt, hat mich nur mit seinen großen, schweren Augen angestarrt. Ich hab ihn gefragt, was er von mir wolle, aber er blieb stumm. Dann hat er seine Brieftasche eingesteckt, sich umgedreht und ist in die nächste Seitenstraße verschwunden.
Da ist mir aufgefallen, dass er hinkte. Ganz schön merkwürdig, was?
Ich meld mich morgen wieder.

Alles Liebe

P.S.: Love is not the answer, but the answer is il panorama del mondo!


2 Am Stephanienufer

Das Stahlbrückengeländer über dem Autobahnzubringer schimmert bläulich.
Das matte Blau beruhigt ihn, wenn er über die Brücke geht, während unten der Fernverkehr vorbeidonnert. Mit der linken Hand greift er nach dem Stahl und hangelt sich Schritt für Schritt voran. Auf dem Gehweg hinterm Hauptbahnhof kommen ihm die länglich gezogenen Risse im Asphalt vor, als treten aufgeschlagene Adern aus dem Teer heraus.

Vermooste Steintreppen führen zum Ufer. Er bleibt stehen und hält kurz inne, das Bein schmerzt. Ein Rabe verzehrt gerade die Reste eines Schokoriegels. Eine Krähe plärrt den einzigen Angler zwischen Stephanienufer und Hannelore-Kohl-Ufer an.
Und Hinkemann fragt sich, was der Baum schon alles gesehen hat, was er ertragen musste in seinem Dasein, außer den Misteln in der Krone. Einen in der Krone haben…
Er schmunzelt. Es geht wieder mit dem Bein. Die Bäume sind die stummen Zeugen am Rhein. Grillbereiche sind akribisch ausgeschildert, und mittig zwischen den Bänken, genau vermessen und gesetzt, stehen Abfalleimer, die manchmal Schätze bergen.

Es ist kein grüner Regenschleier, es sind der Trauerweiden Strähnen, die vor den Mehrfamilienhäusern vom Wind aufgeschaukelt werden. Die Suche kann beginnen, sie hat nie aufgehört und fängt aufs Neue täglich an.

Lieber Christoph,
ich habe dir gestern von dem Penner, der mir das Passfoto gezeigt hatte, erzählt und dann verschwunden war. Ich hab ihn wiedergetroffen.
Ich war unten an der Reiß-Insel spazieren und hab mich über meine Eltern aufgeregt, nichts Neues, ich weiß.
Wahrscheinlich hab ich mich nur über mich selbst empört, als mir dieser Kerl entgegen kam. Das heißt, ich hab ihn schon von weitem erkannt, allein durch sein Hinken. Er trägt rote, zerschlissene Jeans. Normalerweise finde ich ja rote Hosen an Männern entsetzlich, genauso daneben wie gelbe Pullover bei Frauen. Aber bei ihm hat dieses abgefuckte Rot Charme. Die Stilblüte eines Straßenköters.
Werd jetzt nicht kitschig, würdest du sagen. Jaja, du hast ja recht…

Je näher er kam, umso aufgeregter wurde ich, so dass ich kurz davor war, umzudrehen, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Mir war es wohl unterbewusst doch unangenehm gewesen, als er das letzte Mal Reißaus vor mir genommen hatte. Und die nächste Flucht vor mir wollte ich uns beiden ersparen. Aber ich blieb.
Er hatte eine mit leeren Flaschen gefüllte Plastiktüte bei sich, die er mehr hinter sich her schleifte, als dass er sie trug. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, hat er mich erkannt. Er nickte mir zu und wollte schon an mir vorbeigehen, da hab ich ihn angesprochen.
Auch dieses Mal sagte er kein Wort. Er hob nur die Tüte und bedeutete mir, dass er beschäftigt sei. Seiner Geste war nicht zu entnehmen, ob sie freundlich oder reserviert gemeint war, er zeigte keine Regung im Gesicht.  

Auf der anderen Uferseite, drüben in Ludwigshafen, ging jemand am Strand entlang. Und für einen kurzen Augenblick dachte ich mir, während der Typ immer noch vor mir stand, wenn wir die beiden einzigen Menschen auf der Welt wären, weit und breit, wie würden wir zueinander finden… Würden wir überhaupt zueinander finden wollen?
Wahrscheinlich würden wir es versuchen, würden den Weg durchs Wasser auf uns nehmen, denn beide hätten wir Angst, die Sprache zu verlieren.

Geistesgegenwärtig nahm ich seine Hand, sagte, ich würde ihn auf ein Bier einladen und zog ihn mit einem Ruck mit mir. Erst sträubte er sich und keifte irgendetwas, was ich nicht verstand, dann zupfte er seine Jacke zurecht. (Das tat er so akribisch, als hätte ich ihn vorher durchgeschüttelt.)
Als er damit fertig war, lächelte er mich an und machte eine Kopfbewegung, die meinte, dass er jetzt soweit sei.
Wenig später saßen wir in der nächsten Eckkneipe.
Ich glaube, das letzte Mal, dass ich am helllichten Tag in einer Bierstube saß, war mit dir. Das war diese idiotische Kreuzberger Kneipeninitiative „Saufen gegen Rechts“ irgendwann, vor hundert Sommern… Bei ihm hatte ich nun wirklich nicht den blassesten Schimmer, welche Gesinnung er mit sich trägt. Ich hab auch keine Ahnung, ob Penner gleich Penner ist, ob es unter ihnen Abstufungen, Rang- beziehungsweise Hackordnungen gibt. Ich weiß auch nicht, ab wann man als solcher eingestuft wird: als Penner. Weißt du’s?

Wenn man kein Dach mehr überm Kopf hat, wenn man nicht mehr behördlich und erkennungsdienstlich registriert ist, wenn man in keinem Amt mehr eine Nummer ziehen kann, weil sich kein Amt, keine Amtsmitarbeiter, sprich niemand, für einen zuständig fühlt, weil man sich nicht mehr durch Urkunden und Papiere auszuweisen vermag? Weil man nicht mehr mag, weil man nicht mehr kann? Ist es das?
Wenn man zu stinken anfängt, weil man zum natürlichen Ausschuss unseres konsumtiven Wohlstandes geworden ist, mit dem einzigen Unterschied, dass man es jetzt umso heftiger riechen kann? Aus den Poren, aus dem Mund, der Atem, die Kleider, das Geschlecht…
Wenn man seine Anwesenheit nur noch dadurch zu spüren bekommt, dass sich die Mehrheit angewidert abwendet, einen Bogen um einen macht, die Straßenseite wechselt?

Lass mich, du findest es wahrscheinlich lächerlich, sozialromantisch oder so, aber ich will, ich muss ein Plädoyer halten, für die, für die man das putzige Wort Penner benützt, für die aus dem Raster Gefallenen, die niemand mehr auffängt, die sich damit abgefunden haben, im permanenten Fall zu leben, die sich damit arrangiert haben, im Sommer mehr zu schwitzen und im Winter mehr zu frieren als wir, für die, die bei Hunger nicht an Kalorienzufuhr und bei Durst nicht an Flüssigkeitshaushalt denken.
Im Grunde sind wir nicht anders, nur besser versichert. Im Grunde sinken wir auch täglich tiefer, nur haben wir größere Rücklagen, um uns den eigenen Verfall als gemütliches Absinken zu gestalten. Im Grunde bist du der größte Penner, den ich kenne. Du lehnst doch das System, wenn man deinen Worten glauben darf, mit aller Entschiedenheit hab, bist aber fester darin verankert als die meisten, die ich kenne, mit Ausnahme meines Vaters, der nicht mehr mit mir spricht, außer wenn er was an meiner beruflichen Situation auszusetzen hat. Er weiß doch auch, dass er so viel falsch gemacht hat, oder geht das nur mir so?

Wieso antwortest du mir nicht, du Penner…

Alles Liebe

P.S.: Dann sag halt nichts.


3 Im Museum Weltkulturen

Die Frau geht voraus, sie hat den Eintritt für ihn mitbezahlt. Was sie will, steht auf einem anderen Papier. Hinkemann tappt hinterher, die Museumswärterin rümpft die Nase.
Viele der Schwarzweißbilder sind traurig, aufregend oder schrecklich, aber sie wahren eine Distanz, die den Schrecken begreiflicher, durch den Abstand menschlicher macht.
Denn diese Schrecken sind durch Menschenhand erbracht. Polizeifotografien, so der Titel der Ausstellung, 1946 bis 1971. Spurensuche.
Sie fasst ihn an der Hand, weist ihn, sucht mit ihm nach Anhaltspunkten und wartet, dass er was sagt.

Irrfahrt eines Panzers, vermutlich frühe 70er Jahre, Elendsquartiere, ein Flak-Bunker, der aus drei Räumen besteht, in denen acht Personen hausen. Dort steht das Grundwasser zwanzig Zentimeter hoch. Die Bewohner können sich nur auf ausgelegten Dielenbrettern in den Räumen, die ihr Zuhause sind, bewegen.
Was so ein Foto bloß für eine Ungeheuerlichkeit entfaltet, sobald das Wort „Mord“ darunter geschrieben steht.

Auf einem anderen Bild linsen einige Kinder mühsam über eine Mauer, um einen Blick auf die Polizei und das Geschehen zu erhaschen, in gleicher Absicht lugt eine Frau durch ein Fenster und ein Kriminalbeamter vertritt sich bei der geheimnisvollen Bank unter den Bäumen die Beine.

Diesen Ort hier aufzusuchen war ihre Idee, die ihr beim dritten Dunkel Acker Bier mit ihm in der Eckkneipe am Vortag kam. Selbst als sie vor dem Bild „Opfer einer Engelmacherin“ stehen, regt sich nichts in ihm.

Der sterile Raum mit dem fahlen Lichteinfall macht Hinkemann zierlicher, als er ohnehin schon erscheint. Sie hat ihm ein warmes Essen versprochen. Sie hat ihn bei der Hand genommen und ist doch so unerreichbar fern für einen wie ihn.
Das weiß er, wenn er auch nicht versteht, weshalb sie sich mit ihm abgibt.

Lieber Christoph,
letzte Nacht hatte ich die absolute Knallereingebung!
Ich weiß, wer dieser Kerl, er heißt Karl, ist. Karl ist der Kaspar Hauser unserer Gesellschaft. Karl ist das Rätsel seiner Zeit.

Ich erklär’s dir.

Aber vorher will ich mich bei dir entschuldigen, meine letzte Mail war etwas sarkastisch. Ich wollte dich nicht beleidigen, aber irgendetwas in mir nahm überhand. Dann war ich auch angetrunken. Trotzdem, manchmal reib ich mich halt an deiner abgeklärten Art, das macht mich bisweilen rasend, ohne dass ich genau durchschaue, was mir daran aufstößt.
Wahrscheinlich, weil du immer die richtigen Antworten auf alles parat hast, dabei aber selbst ein Nichtschwimmer unter Nichtschwimmern bist. Ich weiß das.
Bitte hab Verständnis für meine Ausfälligkeiten, es hat sicher auch damit zu tun, dass ich hier noch immer bei meinen Eltern sitze und alles von einer Unheimlichkeit überschattet ist.
Ich brauche weder tröstende Worte, noch Klugheiten, ich will einfach spüren, dass du da bist.
Und das tu ich im Moment nicht.

Gestern also war ich mit Karl im Museum Weltkulturen.
Er spricht ja nicht beziehungsweise kaum. Wenn Worte aus seinem Mund kommen, dann sind das irgendwelche Wortbrocken, mit einem heftigen Dialekt durchmischt.
Seinen Namen hat er mir auf einen Zettel gekritzelt.

Sie zeigen dort im Museum Polizeifotographien aus 25 Jahren, 1946 bis 1971. Und ich weiß nicht, aber ich dachte, dieser Typ trägt so ein dunkles Geheimnis mit sich herum und vielleicht gäbe es anhand der ausgestellten Fotos eine Spur in seine Vergangenheit.
Er ist etwa Mitte 50 und ich glaube nicht, dass er jemals in irgendeiner Form im offiziellen Leben verankert war.
Ich dachte, die Fotos könnten Bilder in ihm wecken, Erinnerung hochholen. Bei ihm, bei seiner ganzen Erscheinung, gehe ich von einem an ihm verübten Verbrechen aus. Ich bin felsenfest davon überzeugt. Und selbst wenn ich mich irren sollte, will ich forschen, ich will wissen, auf welchen Lebenslinien dieser Mensch gewandelt ist.

Mich ärgert, dass ich kein Kurpfälzisch spreche, obwohl ich hier die ersten neunzehn Jahre meines Lebens verbracht habe.
Meine Mutter hat uns immer dieses Hochdeutsch beigebracht, diese verkrüppelte Kunstsprache, so dass ein Kontakt zu den Hiesigen nie wirklich stattfand. Ich meine jetzt nicht Schulfreunde und dergleichen, aber das normale Volk hab ich nie kennen gelernt.
Die Sprache war stets die Grenze zwischen denen und mir.
Meine Mutter hat sich immer geschämt für ihren Dialekt, deshalb hat sie ihn uns nie weitergegeben.
Und mein Vater ist Preuße, damit ist alles gesagt – deshalb bin ich ja das, was du verbissen nennst.
Auf alle Fälle bedauere ich im Moment den Umstand meiner Dialektunkenntnis mehr denn je. Denn meine Sprache ist nicht seine, selbst das Schweigen ist ein anderes und das kann man nicht so einfach ignorieren.

Der Museumsbesuch war nicht sehr erhellend bezüglich meiner Verbrechenstheorie, außer dass ich mich sehr über die angewiderten Blicke der Museumswärterin amüsierte.
Du kannst es dir nicht vorstellen, wie die Leute glotzen, wenn wir nebeneinander Mannheim durchmessen, das geht für sie nicht zusammen.

Aber jetzt pass auf. Als ich ihn zum zweiten Mal traf, war das am Stephanienufer.
Dieses Ufer ist nach Stephanie de Beauharnais benannt, die einem Gerücht zufolge Kaspar Hausers Mutter gewesen sein soll.
Das Gerücht besagt, dass Kaspar Hauser der rechtmäßig geborene Erbprinz von Baden war, den man in der Wiege mit einem toten Kind vertauscht habe.
Das war damals, die Wahrheit ist ungeklärt bis heute.
Aber Karl, mein Kaspar, ist natürlich ein anderer. Er ist nicht der Erbprinz von Baden, sondern ein legitimer Erbe von BASF, und eigentlich gehört ihm ein riesiges Aktienpaket.
Karl hätte Anspruch auf Aktien im Wert von drei Milliarden Euro. Ein Erbwirtschaftskrimi, wenn du willst. In den 50er Jahren wurde er, ähnlich wie Kaspar, im Kindsbett ausgetauscht. Seine Mutter war eine niedere Sekretärin, die ein Verhältnis mit dem Boss der Firma hatte. Und weil sie sich nicht mit einem Schweigegeld abspeisen lassen wollte, legte man ihr ein totes Kuckuckskind in die Wiege. So wurde sie untröstlich getäuscht.
Karl indessen, als er noch nicht Karl hieß, brachte man zu einer Mannheimer Unterschichtenfamilie, die angehalten wurde, das Kind als ihres auszugeben, was bei einer zehnköpfigen Familie nicht schwierig sein sollte.
Im Gegenzug dafür bekam die Familie zehn Jahre lang ein für ihre Verhältnisse stolzes monatliches Salär überwiesen.
Dem Kind aber wurde wiederum jede Form der Zuneigung vorenthalten - und das währte länger als zehn Jahre...

Und heute läuft Karl, nicht mehr jung, verkrüppelt und meist stumm durch Mannheim, auf der suche nach Alkohol und Leergut, anstatt auf der anderen Seite des Rheins den Ton anzugeben.

Was hältst du davon?
Lass uns doch daraus einen Film machen, oder ein Theaterstück!
Wieso denn nicht? Du kennst doch den Mannheimer Schauspieldirektor. Das ist doch ein super Stoff, die würden sich die Finger ablecken bei so einer Geschichte.

Ich weiß, das ist alles idiotisch. Wahrscheinlich geht’s allein um meine dunklen Stellen.
Schon als Kind wünschte ich mir im Geheimen immer, adoptiert zu sein.
Wenn ich nicht schlafen konnte, schlich ich mich ins Schlafzimmer der Eltern und wollte mich dazulegen. Die aber schimpften und wiesen mich in strengem Tonfall in mein Kinderzimmer zurück. Durch die Abweisung konnte ich erst recht nicht schlafen und wenn ich dann endlich eingeschlafen war, kamen die bösen Träume, also blieb ich schlaflos und – halb preußisch, wie ich eben bin – eisern und klaglos.
Ich will mich nicht länger beschweren, aber schreib mir doch endlich. Gib mir ein Zeichen. Du musst meine Ideen ja nicht für voll nehmen, tu sie aber auch nicht einfach als Spinnerei ab.

Alles Liebe

P.S.: Aber ein gutes Stück wär’s trotzdem!


4 In den Quadraten

Nachkriegsbauten. Wie lange man das wohl noch sagen wird, Nachkriegsbauten? Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Weiß man, um welchen Krieg es geht?
Auschwitz, Tschernobyl. Es wird eine Zeit kommen, da werden die Leute keinen Unterschied mehr zwischen diesen Orten ausmachen.

Erdbeermund Erotik Store wünscht ein geiles neues Jahr. Gab es überhaupt ein altes und wenn ja, wo ist es geblieben? Das Plakat ist aufgequollen, die Farben sind fast verblichen.
Hinkemann kann sich nicht erinnern, die Tage kommen und gehen. Er irrt durch die Quadrate, halb auf der Flucht, halb auf der Suche. Den Paradeplatz meidet er heute. Die Frau hat ihm zwar Geld gegeben und ihm zwei Dosen Bier gekauft, eine Brezel und Obst, aber muss man sich deshalb gleich verabreden, an Ort und Stelle sein, um ihre Schönheit zu ertragen, mit der Gewissheit, dass sie bald entschwinden wird?

Sie sollte sich hüten, frech zu werden. Sie sollte aufpassen, dass ihre traurigen Augen nicht ganz versiegen. Sie sollte schleunigst in ihre Welt zurückgehen.
Vielleicht wird sie ihn aber auch mitnehmen, irgendwohin. Sie sagte, sie wolle ihn begleiten. Eine Begleitdame…
Hinkemann schmunzelt und hebt den Kopf, eine Legion von Milchglasbalkonen fällt in seinen Blick. Und in der Flucht zwischen zwei Wohnblöcken steht ein Fliederbusch. Wenn das Gras nachwächst, muss es geschnitten werden.
Bald beginnt es wieder zu sprießen.

Die folgende Nacht wird Hinkemann nicht überleben. Zwei Tage später wird im Mannheimer Morgen im Lokalteil stehen: „Betrunkene Jugendliche prügeln Obdachlosen zu Tode.“
Seinen Tod wird niemand auf der Straße betrauern, niemand wird in seinem Revier eine Kerze anzünden. Auch wird es kein Denkmal geben, auf dem steht, „Hier wurde Hinkemann erschlagen/ Unbekannt die Herkunft/ Geheimnisvoll der Tod“.
Aber hätte man ihn Zeit seines Lebens gefragt, ob er ein glücklicher Mensch sei, dann hätte er genickt und geantwortet: „Jeder für sich und Gott gegen alle.“
Niemand hätte es verstanden.

Christoph Nußbaumeder